Pressemitteilung 2020/272 vom

Die professionelle Unterstützung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) ist vor allem in den ersten Schuljahren besonders wichtig. Eine Längsschnittstudie von Forschern des Instituts für Förderpädagogik der Universität Leipzig unter der Leitung von Prof. Dr. Christian W. Glück zeigte, dass 40 Prozent ihren Förderbedarf im Bereich Sprache bereits im Laufe der Grundschulzeit überwinden konnten. Allerdings gebe es vor allem in der Sekundarstufe Nachholbedarf bei den Förderangeboten, sagt Glück anlässlich des bevorstehenden Internationalen Tags der Sprachentwicklungsstörung am 16. Oktober.

Seit 2011 wurden im Rahmen der Längsschnittstudie 89 Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen vom Schuleintritt bis zum Ende der vierten Klasse begleitet. In diesem Jahr konnten 22 von ihnen nun zum Ende der neunten Klasse erneut befragt und teilweise auch getestet werden. Damit wird die Datenerhebung in der Studie nun abgeschlossen. „Während es für betroffene Kinder im Kita- und Grundschulalter breite Angebote der Förderung durch Sprachtherapie und Sonderpädagogik gibt, wird der Bedarf für spezifisch sprachliche Unterstützung in der Sekundarstufe unterschätzt. Die Sprachstörung betrifft nun mehr das Sprachverstehen. Und Jugendliche erreichen dadurch häufig nicht den Schulabschluss, den ihre sonstigen geistigen Fähigkeiten ermöglichen würden“, betont Glück.

Je älter die Schüler werden, desto wichtiger werde es, aus Fachtexten oder aus einem Lehrervortrag mit komplizierterer Sprache, Informationen zu gewinnen. Dazu kämen häufig große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das zeige sich auch in den Studiendaten der Neuntklässler. Ihre Leistungen im Lesegeschwindigkeits- und -verständnistest liegen Glück zufolge im Mittel knapp unter dem Durchschnittsbereich, und in der Hamburger Schreibprobe HSP zur Ermittlung der Rechtschreibleistung im Mittel sogar 1,5 Standardabweichungen unter dem Durchschnitt.

„Diese Schwierigkeiten, obwohl sie durch die gestörte Sprachverarbeitung bedingt sind, sehen – oberflächlich betrachtet – wie allgemeine Lernschwächen aus. Daher ist eine differenzierte Diagnostik durch Fachleute nötig. Das 'Leipziger Sprachinstrumentarium Jugend' wurde in einem Verbundprojekt des Berufsbildungswerks Leipzig, Martin-Luther-Universität Halle und Universität Leipzig genau dafür entwickelt“, erklärt Glück. Er und sein Team wurden bei der Umsetzung des Projekts unterstützt von Prof. Dr. Michael Fuchs und Oberärztin Dr. Sylvia Meuret von der Klinik und Poliklinik für Hals- Nasen- Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Leipzig. Diese Zusammenarbeit von Wirtschaft und Universität wird durch das Programm „Wissenschaft trifft Wirtschaft“ von der Universität Leipzig gezielt unterstützt: Ein gemeinsamer Folgeantrag beim Bundesministerium für Bildung und Forschung hat kürzlich eine Zusage erhalten.

Was sind Sprachentwicklungsstörungen?

Sprachentwicklungsstörungen treten während des Spracherwerbs im Kindes und Jugendalter auf. Manchmal sind sie Folge einer primären Erkrankung, etwa einer Hörstörung. Viel häufiger kann bei Betroffenen keine klare, primäre Ursache festgestellt werden. Sie haben Schwierigkeiten beim Sprechen und/oder der Sprache und auch bei der Schriftsprache. Unterschieden werden Auffälligkeiten in den Bereichen Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Kommunikationsverhalten, die meist in mehreren Bereichen und in einer individuellen Ausprägung auftreten. Studien zeigen, dass etwa sieben Prozent der Kinder von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen sind. Das sind etwa zwei Kinder in jeder Kindergartengruppe oder Schulklasse.

Meist wird die Sprachentwicklungsstörung im Kita-Alter deutlich. Je nach Schweregrad und Komplexität der Störung, kann sich diese langfristig auf die Entwicklung eines Kindes auswirken und auch noch im Schulalter weiter fortbestehen. „Die Idee, dass sich diese Entwicklungsstörung in jungen Jahren verwächst, trifft leider für den großen Teil der Betroffenen nicht zu. Vielmehr zeigen sich häufig auch Folgestörungen. Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung werden beispielsweise als ängstlicher oder hyperaktiver erlebt als typisch entwickelte Kinder“, berichtet Glück. Da das schulische Lernen stark auf Sprache und Sprechen aufbaut, falle Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachentwicklungsstörung das Lernen allgemein oft schwer. „Häufig wird das Verhalten von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen fälschlicherweise als unaufmerksames oder schlechtes Verhalten interpretiert. Dabei steckt dahinter ein Kommunikationsproblem, denn durch die Sprachentwicklungsstörung können sich Kinder nicht verständlich mitteilen, oder sie verstehen die Äußerungen der Anderen nicht korrekt“, erläutert er. 

Kindern und Jugendlichen mit dieser Störung kann geholfen werden. Eine frühzeitige, spezifisch logopädische beziehungsweise sprachtherapeutische Behandlung kann die sprachliche Entwicklung der Kinder unterstützen und massive Folgeerscheinungen abmildern oder sogar verhindern. Für die betroffenen Kinder ist eine allgemeine Sprachförderung nicht ausreichend. Im schulischen Bereich können sonderpädagogische Lehrkräfte mit Spezialisierung für Sprache (Sprachheilpädagoginnen und - pädagogen) das Lernen der Kinder, ihre sprachlichen Fähigkeiten und ihre soziale Teilhabe in Regelschulen oder auch in spezialisierten Förderschulen fördern.

Warum gibt es einen internationalen Tag der Sprachentwicklungsstörung?

Die Idee zum Internationalen Tag der Sprachentwicklungsstörung stammt aus Großbritannien Hintergrund sind  Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2010. Diese ergaben, dass in der Bevölkerung in Großbritannien wenig Wissen über SES vorhanden war. Danach begannen sowohl eine wissenschaftliche Debatte, als auch ab 2013 eine große Öffentlichkeitskampagne. Die Initiatorinnen und Initiatoren des internationalen Tages stellen seit mehreren Jahren wissenschaftlich fundierte Materialien zusammen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt steuern Übersetzungen in anderen Sprachen bei. Der diesjährige internationale Tag der Sprachentwicklungsstörung macht mit dem Slogan #DLDSeeMe beziehungsweise #SES – Schau hin! auf die Störung aufmerksam.