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Lesen Sie den veröffentlichten Berichtsband online auf der Homepage des Waxmann-Verlags

https://www.waxmann.com/buch4822 

 

Im Zentrum der gegenwärtigen globalen Krisen schwelt auch eine Bildungs- und Gesellschaftskrise, die den Zusammenhalt, die Solidarität und das Wertefundament der Demokratien weltweit gefährdet. Um den Bedrohungen zu begegnen, braucht es politisch kompetente, demokratieorientierte Bürger*innen – und eine Schule, die junge Menschen dabei unterstützt, ihren Platz in der Gesellschaft selbstbestimmt und verantwortungsvoll einzufordern.  

In diesem Punkt lässt die International Civic and Citizenship Education Study (ICCS)* 2022 hellhörig werden für die Situation an Schulen, aber auch für die Leistungsfähigkeit des Schulsystems, Schüler*innen bei der Entwicklung ihrer Rolle als Bürger*innen zu unterstützen. Bei der aktuellen Durchführung der Studie haben 24 Bildungssysteme weltweit teilgenommen, darunter 21 aus Europa samt der zwei deutschen Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Am 28. November wird ein erster Teil der Ergebnisse veröffentlicht. Ein zweiter Ergebnisteil folgt im kommenden Jahr am 22. Februar. 

ICCS ist die einzige international vergleichende Studie zur politischen Bildung, die neben Einstellungen und Partizipationsabsichten auch politisches Wissen erfasst und dabei politisches Lernen und Sozialisationsprozesse an Schulen in den Blick nimmt. Die Leitung der Studie liegt in Deutschland bei Prof. Hermann Josef Abs (Universität Duisburg-Essen) und Prof. Katrin Hahn-Laudenberg (Universität Leipzig). Beide hatten bereits an der ICCS 2016 mitgewirkt.  

Die Befragung in ICCS fand während der auslaufenden Corona-Pandemie und wenige Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine statt. Auch war es eine Zeit, in der „Fridays for Future“ für viele Schüler*innen noch den Erstkontakt zur Klimabewegung bildete. Die Signaturen dieser Zeit haben die Antworten der Schüler*innen ebenso geprägt wie deren schulische Erfahrungen.  

Die Ergebnisse aus ICCS zeigen, dass Schüler*innen in Deutschlands Schulen sehr unterschiedliche Chancen haben, politisches Wissen zu erwerben: Im internationalen Vergleich ist das Niveau des politischen Wissens bei Schüler*innen in Deutschland leicht überdurchschnittlich, aber den deutschen Schulen gelingt es schlechter als den meisten anderen Bildungssystemen, trotz ungleicher Startchancen die Entwicklung politischer Kompetenzen für alle Schüler*innen gleichermaßen zu ermöglichen. Stattdessen verstärkt das Schulsystem die Ungleichheit der Chancen auf politisches Wissen und politische Beteiligung.  

Neben dem Einfluss schulischer Bildung wird in den Ergebnissen aus ICCS 2022 auch der Einfluss der Krisen auf die politische Entwicklung von Jugendlichen deutlich: Zwar vertrauen noch etwa drei Viertel der Schüler*innen der Regierung, den Gerichten oder auch der Polizei, aber dieser Wert ist in Deutschland und international rückläufig. Geringer ist das Vertrauen in Institutionen, die den politischen Diskurs repräsentieren, so äußert etwa zwei Drittel der Schüler*innen ihr Vertrauen gegenüber dem Bundestag und die Hälfte allgemein gegenüber Parteien. Dieses Muster der Zurechnung von Vertrauen zeigt sich auf sehr unterschiedlichem Niveau auch in anderen Ländern. Insgesamt hat sich das Niveau des Vertrauens in Deutschland und international seit der letzten Befragung bei ICCS 2016 um 5-10% abgesenkt. Der Rückgang des Vertrauens ist insbesondere deshalb besorgniserregend, weil ein grundlegendes politisches Vertrauen als Ressource notwendig ist, um in Krisen gesellschaftliche Veränderungen gestalten zu können.  

Diese Krisenwahrnehmung hat sich seit ICCS 2016 verstärkt. Sieben von zehn Jugendlichen in Deutschland und international sehen 2022 im Klimawandel eine große Bedrohung für die Zukunft der Erde. Noch etwas höher liegen die Bedrohungswerte für Wassermangel und Umweltverschmutzung. Nur Kriegen und bewaffneten Konflikten werden in Deutschland von einer noch größeren Zahl Jugendlicher als bedrohlich wahrgenommen. Acht von zehn sehen hier eine große Bedrohung für die Zukunft der Erde.  

Der Bedrohungseinschätzung folgend sehen acht von zehn Heranwachsenden Regierungen in der Verantwortung den Umweltschutz zu priorisieren. Daneben sehen sie sich selbst in der Pflicht, Nachhaltigkeit konkret umzusetzen. Allerdings berichtet nur ein deutlich kleinerer Anteil, fünf von zehn, in ihrem Kaufverhalten regelmäßig Umweltaspekte zu berücksichtigen. Damit unterscheiden sich die Schüler*innen in NRW und SH nicht wesentlich von ihren europäischen Altersgenossen. Hinsichtlich ihrer Bereitschaft, sich politisch einzubringen, liegen Schüler*innen in NRW und SH hingegen im europäischen Vergleich unter dem Durchschnitt, auch wenn die spezifische Bereitschaft zur Teilnahme an friedlichen Demonstrationen verglichen mit dem letzten Studienzyklus 2016 gestiegen ist.  

Auffällig ist, dass Umweltmaßnahmen wie Mülltrennung und Energiesparen nach einer Befragung der Schulleitungen an deutschen Schulen seltener umgesetzt werden als im Mittel der europäischen Teilnahmeländer. Dies impliziert, dass die institutionelle Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung an deutschen Schulen auch durch aktives Vorleben von Umweltschutzmaßnahmen noch gestärkt werden könnte.  

Politische Bildung und demokratische Schulentwicklung haben die Möglichkeit, nachhaltige Entwicklung und couragiertes Eintreten für die Demokratie anzustoßen. Allerdings stehen die dazu benötigten Werkzeuge noch nicht an allen Schulen in der gleichen Weise zur Verfügung, und auch ausgebildete Lehrkräfte, die den Werkzeugkasten kunstvoll nutzen können, fehlen in Deutschland seit langem: Etwa die Hälfte des sozialwissenschaftlichen Fachunterrichts wird von Lehrkräften erteilt, die nicht für das Fach ausgebildet wurden. Hier liegt eine große Herausforderung für die Fortbildung von Pädagog*innen und die Materialentwicklung.